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GCM 2-2012

  GCM 2 / 2012 GERMAN COUNCIL . Verführung Sie sind als Berater international tätig. Unterscheiden sich die erfolg- reichen Verführungsstrategien und Inszenierungen in den jeweiligen Ländern oder lassen wir uns alle global auf dieselbe Art und Weise ver- führen? Je weiter an der Oberfläche, desto größer sind die Unterschiede. In Eu- ropa wollen die Menschen zum Beispiel echte Materialien sehen, sie wollen Tageslicht sehen, sie wollen Design und Lifestyle erleben. In In- dien, überhaupt im Orient, ist das Farbempfinden komplett anders als bei uns. In Amerika und England sind es die Reizschwellen, die ganz anders liegen. Aber je stärker es dramaturgisch wird, also je stärker Storytelling, kognitive Landkarten und auch die Hochgefühle eine Rol- le spielen, desto ähnlicher. Vielleicht liegt es an diesen Reizschwellen, dass viele Marken und Shop- ping Center immer aufwendigere Strategien und Erscheinungen zu be- mühen scheinen, um die Aufmerksamkeit ihrer Kunden zu gewinnen. Ist das ein ständig fortschreitender Prozess, müssen sich die Protagonis- ten immer weiter gegenseitig übertreffen? Nein. In solchen Entwicklungen entstehen immer irgendwann Insze- nierungen, die dem Zuviel etwas entgegensetzen. Eines der wichtigs- ten Hochgefühle im Moment ist zum Beispiel Chill. Dabei geht es nicht nur um Entspannung, sondern tatsächlich um Entlastung. In der Expe- rience Economy wurde den Kunden in den letzten 20, 30 Jahren so viel an wertvollen Materialien wie Marmor, Messing etc. zugemutet, dass durch die Inszenierung natürlich der Druck erhöht wurde. Die Gegen- bewegung auf der Chill-Ebene ist das Rough Luxe. 50 Prozent aller Shops in London agieren im Moment über bewusst dramatisierte min- derwertige Materialien, vom absoluten Luxus bis zu den Ketten. Da gibt es strategisch eingesetzten Edelrost, abgewrackte Metallwaren- träger, raues Holz, das aussieht, als wäre es recycelt worden. Alles na- türlich in Wirklichkeit sehr sauber und sehr chic gemacht, aber mit ei- nem emotionalen Environment, einer Geste der Entlastung. Die Hoch- gefühle sind ja auch dafür da, damit unsere körpereigenen Drogen ausgeschüttet werden. Wir gehen an die Orte, an denen diejenigen körpereigenen Drogen ausgeschüttet werden, die wir gerade brau- chen. Sie sehen gut entworfene Malls also als emotionale Therapie? Sicher. Ästhetik bleibt nicht ohne Auswirkung, sie hat einen unmittel- baren Einfluss auf unser Seelenleben. Es ist nicht egal, ob man sie ein- setzt oder nicht. Der Verkaufserfolg, der mit einer guten Gestaltung immer einhergeht, weil der AIME-Wert hochgeht, ist quasi immer nur eine Begleiterscheinung. In Wirklichkeit geht es bei einer Mall darum, den Menschen ein angenehmes Malling-System zu bieten, das ihnen guttut, in dem sie Toiletten vorfinden, die ihnen keine Angst machen, sondern an denen sie für zwei Minuten einen Rückzugsort haben, da- mit sie sich überlegen können, ob sie sich jetzt dieses Ledersofa kaufen sollen oder nicht. Eine gute Mall-Architektur und ein optimales Verfüh- rungssystem in einer Mall bedeuten immer, die Menschen in erster Li- nie gut zu behandeln. Für Sie steht nicht die Verführung an erste Stelle? Die ist nur eine Nebenwirkung. Alle unsere Auftraggeber, die beson- ders erfolgreich sind, wollten zwar auf der einen Seite immer auch ei- nen kommerziellen Erfolg. Auf der anderen Seite wollten sie aber auch ihren Kunden einen Ort geben, der ihnen emotional guttut. Wenn wir das nicht sehen bei einem Auftraggeber, wissen wir, dass es ein Prob- lem geben wird. Wodurch sind Sie selbst das letzte Mal verführt worden? Das war ein Restaurant in London. Der Koch Yotam Ottolenghi hat es geschafft, vegetarisches Essen so zu machen, dass man sich denkt, da braucht man kein Fleisch mehr, so unglaublich intensiv ist es. In einem seiner Restaurants in London waren wir in vier Tagen drei Mal. Es gibt dort zum Beispiel ein Linsengericht, so was haben Sie noch nie geges- sen. Das ist etwas, auf das man absolut nicht kommt, auch von der Konsistenz, danach wird man süchtig. Es ist also tatsächlich noch möglich, Sie als Experten zu verführen? Absolut. Ich komme ja ursprünglich vom Film und kann ich mich trotz- dem noch in ein Kino setzen und den Film genießen. Ich kann aber im Nachhinein analysieren, was ich erlebt habe und warum. Ich bin auch ein ganz normaler Konsument von Hotels, Malls und Urban Design. Wenn etwas besonders intensiv ist, beginne ich zu filmen oder zu foto- grafieren. In dem Augenblick konzentriere ich mich natürlich auf die Codes, aber ich kann sie zugleich auch genießen. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass der Genuss geringer wird, wenn man über eine Sache Bescheid weiß. Das Gegenteil ist der Fall. Beim intuitiven Genießen wird es umso interessanter, wenn man sich kurz der Strategien be- wusst wird, und dann nachschnüffelt, was es noch alles gibt. Und wir wissen, wenn Herr Ottolenghi so wahnsinnig gut kocht, dann sind die Toiletten wahrscheinlich auch interessant. Und genauso war es auch. Ein Gespräch mit Dr. Mikunda (Foto) Christian Mikunda gilt als Vordenker der Erlebnis- wirtschaft und Begründer der Strategischen Dra- maturgie. Er berät die Automobilindustrie und Handelskonzerne, Fernsehanstalten, Museen und Weltausstellungen, entwickelt Brandlands und Shopping Malls, findet den »roten Faden« für Städ- te und Kommunen. Als Vortragender wird er welt- weit gebucht, als Dozent lehrte er in Wien, Salzburg und München, war Gastprofessor in Klagenfurt und Tübingen und Guest Speaker an der Harvard Uni- versity in Boston. Das Gespräch führte Lea Rickert. Von Dr. Christian Mikunda sind unter anderem erhältlich: »Der verbotene Ort, oder Die inszenierte Verführung«, München 2011 (Düsseldorf 1995) »Marketing spüren. Willkommen am Dritten Ort«, Heidelberg 2007 (Frankfurt 2002) »Warum wir uns Gefühle kaufen. Die 7 Hochgefühle und wie man sie weckt«, Berlin 2009

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